Forsa-Umfrage: In jeder Klasse zwei AD(H)S-Kinder

Sie sind zappelig, unkonzentriert, mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt. Der Heimweg vom Kindergarten oder die Hausaufgaben dauern, beim Essen wird nicht stillgesessen – viele Eltern dürften solche Szenen kennen. Aber wann ist das Verhalten eines Kindes tatsächlich so auffällig, dass es der Therapie bedarf? Sind Kinder schwer zu bändigen, denkt man heute schnell an AD(H)S, die so genannte Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störung, im Volksmund auch als Zappelphilipp-Syndrom bekannt. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) sind sieben Prozent der Eltern in Deutschland der Meinung, dass ihr Kind an AD(H)S leidet. Danach würden statistisch gesehen in jeder Klasse mit 28 Schülern mindestens zwei Kinder mit dieser Diagnose sitzen. Experten gehen davon aus, dass es tatsächlich deutlich weniger sind, etwa zwei bis sechs Prozent – Jungen deutlich häufiger als Mädchen – sind nach ihrer Einschätzung betroffen.
„Die Diagnose AD(H)S bedarf einer umfassenden Diagnostik. Dazu gehören ausführliche Gespräche mit Eltern, Lehrern und Erziehern sowie umfangreiche Untersuchungen. Es sollte immer abgeklärt werden, ob die Symptome nicht andere Ursachen haben könnten. Wichtig ist, dass die Störung im frühen Kindesalter festgestellt wird, in der Regel vor dem sechsten Lebensjahr“, erklärt Johannes Klüsener, Psychologe bei der TK. Nur mit einer ausführlichen Diagnostik kann die geeignete Therapie gefunden und kritisch überprüft werden, ob voreilig Methylphenidat, auch bekannt als Ritalin, zum Einsatz kommt.
In der Umfrage bejahten vor allem jüngere Eltern sowie Familien in Großstädten und Familien mit niedrigeren Einkommen die Frage nach AD(H)S. Regional gehen die Familien sehr unterschiedlich mit dem Thema um: In Bayern nehmen elf Prozent der Eltern bei ihrem Kind die psychische Störung an, in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist dagegen gerade einmal ein Prozent der Erziehungsberechtigten dieser Meinung.
Die TK verzeichnet eine deutliche Zunahme der an Kinder verordneten Psychopharmaka. Immer mehr Kinder erhalten Methylphenidat zur Behandlung von AD(H)S, das Arzneimittelvolumen ist in drei Jahren um über 30 Prozent gestiegen. „Wir haben 2009 über neun Millionen Euro für diese Medikamente ausgegeben. Statistisch gesehen hat mehr als jedes zehnte Kind im letzten Jahr ein solches Präparat bekommen. Das wirft die Frage auf, ob heute leichtfertiger mit so einem Präparat für kleine Patienten umgegangen wird als früher“, so Klüsener.
Nach Ansicht der Psychologen gibt es nicht die eine Ursache für die Entstehung von ADH(S). „Man kann davon ausgehen, dass neurobiologische und psychosoziale Faktoren zusammenwirken“, erklärt Johannes Klüsener. „Offenbar bestimmen ererbte Faktoren das Risiko, zu erkranken. Aber erst wenn ein Kind auf bestimmte Lern- und Umweltbedingungen stößt, kann die Erkrankung ausbrechen. Gesellschaftliche Veränderungen, andere familiäre Strukturen, Bewegungsmangel oder Medienkonsum sind nicht die Ursachen von AD(H)S, können aber den Verlauf beeinflussen.“ Die Forsa-Umfrage der TK bestätigt dies: Fast jedes dritte Kind bekommt weniger als 90 Minuten Bewegung am Tag (und darin sind der Schulweg und das Toben in der Wohnung bereits eingerechnet), aber: Mehr als jedes dritte Kind sieht mehr als eine Stunde fern, und 80 Prozent der Kinder sitzen täglich an Computer oder Spielkonsole. „Fernsehen und Computer gehören zum Alltag der Kinder und es ist für sie eine besondere Herausforderung, diese Informationsfülle zu verarbeiten. Reizüberflutung und Bewegungsmangel sind schädlich für alle Kinder, dies gilt aber in besonderem Maße für Kinder mit einer Veranlagung oder einer bereits bestehenden psychischen Störung“, so Klüsener. „AD(H)S darf jedoch nicht als schnelle Erklärung für ein anstrengendes Kind herhalten, das sich nicht elterlichen, erzieherischen oder gesellschaftlichen Normen entsprechend verhält. Nicht alles was auffällig ist, muss auch krankhaft sein.“
Bevor Medikamente wie Methylphenidat verordnet werden, muss mittels ausführlicher Diagnostik ausgeschlossen werden, dass es sich nicht um vorübergehende Entwicklungsstörungen der Sprache, des Lesens, der Rechtschreibung oder des Sozialverhaltens handelt. Auch organische und neurologische Erkrankungen wie Epilepsie können ganz ähnliche Symptomatiken wie AD(H)S auslösen. Medikamente allein sind noch keine Therapie; sie machen die Behandlung der betroffenen Kinder oft überhaupt erst möglich. Und arzneimittelrechtlich sind sie ausschließlich als Teil eines umfassenden Behandlungsprogramms zugelassen – zum Beispiel in Verbindung mit psychotherapeutischen und pädagogischen Maßnahmen. Anders herum gesagt: AD(H)S allein mit diesen Präparaten zu behandeln, ist hierzulande verboten.
Zudem weiß man noch zu wenig über die Folgen einer langfristigen Einnahme von Ritalin. Der TK-Experte rät zu einem vorsichtigen Umgang: „Bei sehr ausgeprägter Symptomatik sind Präparate mit Methylphenidat wie Ritalin das Mittel der Wahl. Die Symptome werden schnell gelindert, im akuten Fall lassen sich zum Beispiel ein Schulwechsel verhindern oder eine extrem angespannte familiäre Situation entlasten. Dies kann aber nur der Anfang einer Therapie sein. Die Betroffenen müssen lernen, mit den Symptomen umzugehen, denn bei bis zur Hälfte der Kinder bleiben diese bis ins Erwachsenenalter bestehen.“ (Pressemitteilung

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